Wenn Muster Geschichten erzählen

Diese Weste ist ein Einzelstück. Man kann Handarbeit ja nicht kopieren“, sagt Barno und lächelt stolz. Ihr Team hat wieder einmal meine Erwartungen übertroffen. Es bereitet mir Freude, zu sehen, wie Handwerkerinnen stolz auf ihreArbeit sind.

Sehr oft wird usbekischen Frauen im Alltag gesagt, dass sie aufgrund ihres Geschlechts vieles nicht können, dass sie den Männern unterlegen sind. Und doch sind usbekische Frauen starke Frauen. Ich bewundere sie für ihre Geduld und Demut. Das usbekische Kulturerbe, das Weben und Sticken, ist ein Beispiel für die Geduld der Frauen. Ohne Geduld kann man nicht einmal einen Tag lang einen Wandteppich besticken. „Stickerei ist eine Reise in die eigene Welt. Es ist ein spiritueller Weg, auf dem die Stickerinnen oft etwas Göttliches in sich entdecken“, höre ich immer wieder von ihnen.

In den usbekischen Werkstätten herrscht eine ganz andere Arbeitswelt. Alles ist ein bisschen chaotisch, laut, „zu persönlich“. In den Sommerferien bringen die Stickerinnen ihre Kinder mit in die Werkstatt, die dann mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft im Hof spielen. Es herrscht eine familiäre Atmosphäre. Die Kolleginnen ersetzen oft Psychologen, wie ich gerne sage. Man teilt Geschichten aus dem Privatleben, Sorgen und Geheimnisse. Man erfährt schwesterliche Unterstützung und Verständnis. „Wir Frauen haben alle ähnlichen Sorgen. Wir wollen, dass es unseren Familien gut geht, und opfern uns dafür oft auf“, sagt meine Mutter immer wieder. Da ist etwas Wahres dran.

Manchmal vermisse ich mein distanziertes Deutschland“, schrieb ich in mein Tagebuch. Denn diese allzu familiäre Art überforderte mich manchmal. „Du bist deutsch geworden“, sagte meine Mutter immer, wenn sie meine Überforderungbemerkte – sei es bei spontanen Terminen, nicht eingehaltenen Deadlines oder zu vielen persönlichen Fragen. Meine mittlerweile „deutsche“ Art amüsiert meine Verwandten, wenn sie hören, wie ich mich über solche Kleinigkeiten aufrege. Doch es ist gut so, wie es ist. Denn die Kleidungsstücke, die in mühevoller Handarbeit entstehen, sind nicht nur etwas Besonderes - sie erzählen die Geschichten der Frauen. Sie riechen nach Baumwolle, Granatapfel und Werkstatt.

Eine nicht unwichtige Rolle spielt dabei der Aberglaube. Wie der Glaube selbst, so macht auch der Aberglaube das Leben einfacher und verständlicher. So symbolisiert das scheinbar unbedeutende Paprikamuster, das sowohl auf Wandteppichen als auch auf einer unserer Westen zu finden ist, Schutz: Schutz vor dem Bösen, vor Unglück. „Es ist ein altes und wichtiges Muster. Die Schärfe der Peperoni schreckt das Böse ab“, erklären mir die Stickerinnen.

Sehr beliebt ist das Muster des Lebensbaums“, erzählt mir Dili. Ihre Familie betreibt in Bukhara in zweiter Generation Läden für traditionelle Textilien. Die Einheimischen lieben dieses Muster wegen seiner spirituellen Bedeutung. Der Lebensbaum symbolisiert die Familiengeschichte. Während die Wurzeln tief in die Erde reichen, wachsen die Äste in den Himmel. Dieser Baum, so glaubt man, verbindet Erde und Paradies, Vorfahren und Nachkommen. Oft trägt dieser Baum Früchte in Form von Granatäpfeln, die die kommenden Generationen symbolisieren.

Die Muster auf unseren Westen erinnern mich oft an den Orient, an meine Kindheit und an die Märchen aus 1001 Nacht, die ich als Kind so sehr geliebt habe. Diese Westen sind eine Hommage an die 70er Jahre, als die buntesten Farben en vogue waren und eine ganze Modeepoche von Glitzer, Farbe und Mut geprägt war. Oder wie eine Kundin neulich sagte: „Jede Weste ist wie ein kleines Gemälde“. Und ich musste ihr Recht geben. Handarbeit lässt sich eben nicht kopieren.

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